April 2024
Paradigmenwechsel
Künstlich niedrige Zinsen und billige Produktion sind passé. Anleger müssen genau darauf achten, wie die einzelnen Unternehmen mit den höheren Kosten zurechtkommen.
Robert M. Almedia, Jr.
Portfoliomanager und Global Investment Strategist
Der Marktwert von Aktien, ob börsennotiert oder nicht, beruht auf einer Reihe von An-nahmen über künftige Kapitalerträge. Wenn sich die Gewinnprognosen ändern, reagieren die Kurse. An der Börse kann das schnell gehen. Bei nicht börsennotierten Titeln kann es länger dauern, ist aber auch hier nur eine Frage der Zeit.
Seit dem Ende der internationalen Finanzkrise haben Anleger sehr viel verdient. Länder- und stilübergreifend legten die Kurse zu, und zwar vor allem aufgrund steigender Netto-erträge der Unternehmen. Natürlich stiegen manche Aktien stark überdurchschnittlich – etwa hochkapitalisierte US-Wachstumstitel –, doch waren Kapitalerträge und Wertzuwachs alles in allem beachtlich. Kaum etwas schien die Märkte zu bremsen.
Außer in der Zeit nach den Lockdowns mit ihren großen Konjunkturprogrammen stagnierte die Wirtschaft jahrelang, weil zu viel gespart und zu wenig investiert wurde. Am Ende schadete das auch den Umsätzen der Unternehmen. Dass viele Firmen weltweit trotz allem noch sehr gut verdienten, lag nicht zuletzt an fallenden Kapital- und Betriebskosten.
So viel zur Vergangenheit – aber wie geht es weiter? Seit 2022 sind Kapital- und Betriebs-kosten gestiegen. Im Folgenden erklären wir, warum wir keine Rückkehr zu den früheren Tiefstständen erwarten und was das für risikoreiche Wertpapiere bedeuten kann.
Die Bank of England hat eine Geschichte der Zinsen in den letzten 5.000 Jahren vorgelegt – eine bemerkenswerte Leistung. Darin erfahren wir, dass die Zinsen noch nie so niedrig waren wie 2021. Wer wie ich vor den frühen 1980ern geboren ist, hat sowohl das Allzeithoch als auch das Allzeittief der 5.000-jährigen Zinsgeschichte erlebt.
Jetzt, drei Jahre später, rechnen Investoren noch immer mit einer Lockerung der Geldpolitik weltweit – und das trotz Personalmangel und monatlich 250.000 neuen Stellen. Wenn die Geldpolitik wirklich gelockert wird – was auch ich erwarte –, muss man sich fragen, was das für die Zinsstrukturkurven und Langfristrenditen auf Dauer bedeutet.
Tagesgeldsätze und Kurzfristzinsen werden wohl bald fallen, aber viele Anleger erwarten auch einen drastischen Rückgang der Langfristrenditen und Kapitalkosten. Ich meine hingegen, dass niedrigere Kurzfristzinsen eher zu einer steileren Zinsstrukturkurve als zu billigeren Krediten führen. Vor allem glaube ich, dass die Fremdkapitalzinsen – ob für Verbraucher, Unternehmen oder den Staat – wohl kaum wieder auf ihre Allzeittiefs fallen. Dazu ist die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu hoch, Arbeitskraft zu knapp und der Investitionsbedarf zu groß.
Wenn ich das irgendwo sage, fragt man mich oft, ob die Notenbanken bei Marktturbulenzen nicht Einfluss auf die Zinsstrukturkurven nehmen. Natürlich möchten sie das gerne. Aber Wollen und Können ist zweierlei. Als die Ersparnisse hoch, die Ausgaben niedrig und Arbeits-kräfte reichlich vorhanden waren (mit einer entsprechend geringen Verhandlungsmacht der Gewerkschaften) und das Wachstum ebenso niedrig war wie die Inflation, ließ sich die Zinsstrukturkurve wesentlich leichter steuern.
Geändert hat sich vor allem, dass die Ersparnisse der Haushalte heute für Lebensmittel, Wohnen und Energie ausgegeben werden und Unternehmen investieren, um ihre Lieferketten zu verkürzen. All das geschieht in einer Zeit, in der Arbeitskräfte knapp und teuer sind. Diese Ausgaben sorgen daher nicht nur für mehr Wachstum, sondern auch für mehr Inflation. Hinzu kommt, dass die Inflation heute sowohl höher als auch volatiler ist als vor einigen Jahren und die Haushaltsdefizite seitdem kräftig gestiegen sind. Der Anleihenmarkt schränkt die Handlungsfähigkeit der Fiskalpolitik daher ein, wie die britische LDI-Krise vor 18 Monaten deutlich zeigte. Für risikobehaftete Wertpapiere ist das nicht folgenlos, denn der Kapitalertrag muss jetzt wesentlich höher sein, damit ein Unternehmen etwas verdienen kann.
Hinzu kommt die Globalisierung. Zusammen mit dem Just-in-time-Konzept hat sie den Unter-nehmensgewinnen sehr geholfen, denn Lagerhaltung ist teuer. Wer weniger Waren vorhält, hat mehr Kapital für andere Zwecke, kann effizienter arbeiten und höhere Gewinne erzielen. Wegen der kostengünstigen Produktion von Industriegütern vor allem in Asien konnten viele westliche Konzerne Arbeitskosten sparen, und Multinationals brauchten weniger zu investieren, weil sie die Produktion auslagern. Bei fallender Kapitalintensität steigen ceteris paribus die Gewinne. Doch weil viele Industrieländerunternehmen wegen der Globalisierung auf einen großen Kapitalstock verzichten konnten, wurden die 2010er auch zum Jahrzehnt der Stagnation. Die Globalisierung ist also nicht ohne Risiken. Corona, aber auch der Krieg zwischen Russland und der Ukraine und der neue Krieg im Nahen Osten zeigen das anschaulich.
Just in time und Globalisierung setzen Frieden voraus. Die Schiffe wurden größer und konnten mehr Container transportieren, weil die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Militär-blöcke die Weltmeere sicher gemacht haben. Unternehmen müssen sich darauf verlassen können, dass Güter pünktlich eintreffen, und das war auch der Fall. Weil das Vertrauen wuchs und Größenvorteile immer wichtiger wurden, hat sich der Anteil des Seetransports am Welt-handel mehr als verdoppelt. Zugleich gingen die Frachtraten zurück, und die Gewinne stiegen kräftig.
Seefracht ist noch immer billig, aber die Kosten steigen. Mehr Sorgen macht, dass durch die Pandemie und durch zwei echte Kriege (und einen kalten) das Risiko gestiegen ist, dass produktionswichtige Bauteile nicht rechtzeitig eintreffen. Unterdessen ist die Produktions- verlagerung nach Asien keine Option mehr, weil Asien nicht mehr billig ist und Arbeitskräfte auch hier fast überall knapp sind.
Die Globalisierung ist nicht vorbei, und auch just in time ist nicht passé. Dennoch rechne ich damit, dass die Lieferketten kürzer werden oder die Kosten steigen – vielleicht auch beides.
Neben dem Konjunktur- und dem Marktzyklus gibt es auch einen gesellschaftlichen Zyklus. Harte Zeiten haben die Menschen schon immer stärker gemacht. Weil sie dann besser mit Widrigkeiten zurechtkommen, werden auch die Zeiten wieder besser. Aber das macht die Menschen wieder schwächer, sodass die Zeiten schließlich wieder härter werden – und so weiter.
Meiner Meinung nach hatten es Unternehmen aufgrund der geld- und fiskalpolitischen Reaktio-nen auf die internationale Finanzkrise und Corona sehr gemütlich, und das war auch so gewollt. Die Anlageerträge stiegen. Leben, Geschäft und Investieren sind selten leicht. Aber die expansive Geld- und Fiskalpolitik hatte zuletzt zumindest das Investieren wesentlich einfacher gemacht.
Wenn sich die Dinge so entwickeln wie beschrieben, dürften die Portfolioerträge künftig wieder mehr von den Fundamentaldaten der Unternehmen abhängen. Wertpapiere von Unternehmen, die mit den wieder höheren Kosten gut zurechtkommen, dürften die Titel ihrer schlechter vorbereiteten Konkurrenten dann hinter sich lassen.
Wenn alle drei Zyklen jetzt zu Ende gehen, werden die Zeiten für Unternehmen ungemütlicher. Die Widrigkeiten werden zunehmen, doch nach dem Paradigmenwechsel werden Geld- und Fiskalpolitik nicht mehr so locker sein können wie beim letzten Mal. Deshalb glaube ich, dass man bei der Portfoliokonstruktion unbedingt wählerisch sein muss.
Die hier dargestellten Meinungen sind die des Autors/der Autoren und können sich jederzeit ändern. Sie dienen ausschließlich Informationszwecken und dürfen nicht als Empfehlung zum Kauf von Wertpapieren, Aufforderung oder als Anlageberatung verstanden werden. Prognosen sind keine Garantien.